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Ich betrachte das Bild mit dem Titel „Mensch“ von einem Alzheimer- Patienten, Dr. Martin Demmering. Er hat es in der Mal-Therapie des Alzheimer-Therapie-Zentrums Bad Aibling gestaltet. Seine Familie legt Wert darauf, dass sein Name erwähnt wird. Dr. Martin Demmering soll nicht in der Anonymität des Vergessens untergehen oder in schamvollem Schweigen verschwinden. Andere Familien brauchen für sich mehr Schutz, auch das ist in Ordnung.

Dr. Demmerings Mensch ist voller Farben, auf den ersten Blick erscheint er zerfurcht, zerrissen. Rote Strukturen durchziehen seinen Leib, wie Wunden. Das Grün-Gelb wirkt irgendwie ungesund. Die blauen Gesichtszüge richten sich nach innen, die Augenbrauen überdecken Augen, die wie Höhlen in zerklüftetem Gestein wirken. Übergroß die abstehenden Ohren, durch die so viel Schweres und zunehmend auch schwer Begreifbares nach innen dringt.

Vielleicht würden wir dieses Bild in einem anderen Zusammenhang ganz anders wahrnehmen. Aber wir sehen es in einem bestimmten Licht, wir wissen, dass der Künstler Alzheimer-Patient ist, dass ihm sein Leben, seine Erinnerung zwischen den Fingern zerrinnt, dass ihn gerade in der Anfangsphase der Krankheit Wut und Verzweiflung quälen, selbstzerstörerische Gedanken.

Aus einem Auge rieselt eine Spur roter Tränen. Und doch sind die Konturen dieses Menschen stark, wahrnehmbar… Rechts neben oder hinter Dr. Demmerings Mensch fällt eine aufstrebende Struktur auf - wie wenn dieser Mensch Flügel hätte. Sollten einem dementen Menschen, zumindest wie ihn dieser Alzheimer-Kranke gemalt hat, etwa Flügel wachsen, wenn auch reichlich zerzauste?

Was könnte so eine Assoziation bedeuten? Ein Alzheimer-Patient als Engel? Die biblischen Engel waren nie niedliche Putten, sondern immer machtvoll, beängstigend, manchmal sogar zerstörerisch, aber eben auch Boten aus einer anderen Welt.

Könnten wir einem Alzheimer-Patienten zugestehen, dass er zumindest teilweise und dann immer mehr Bewohner einer „anderen Welt“ ist und wird? Vielleicht müsste ich als Angehöriger oder vielleicht irgendwann selbst Betroffener dann nicht mehr ganz so verzweifelt über das trauern, was einmal normal war und jetzt nicht mehr ist - Erinnerungen, Fähigkeiten, Beziehungen. Jene andere Welt ist anders, eine Welt jenseits unserer üblichen Freiheitsvorstellungen und Ansprüche an uns selbst. Sie ist gezeichnet von vielen Verzerrungen und Brüchen. Aber auch von dem Versprechen, dass „Gott alle Tränen von ihren Augen abwischen wird und der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz. Denn das Erste ist vergangen.“ (Offenbarung des Johannes 21, 4).

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