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Fast vierzig Jahre alte Postkarten meines Vaters sind mir in die Hände gefallen. Seine in deutscher Schrift sorgsam gemalten Worte waren erfüllt von der Sorge, dass aus der kleinen Tochter etwas Rechtes wird. Deshalb enden die Karten mit der freundlichen Ermahnung, ein braves, folgsames Mädchen zu sein. Ob Gehorsam eine Tugend ist? Wenn Kinder vernünftige Anweisungen ohne Murren befolgen, ist das angenehm. Andererseits: Der eigene Wille, selbst bestimmen und entscheiden zu können, verhindert, dass man sich Anordnungen widerspruchslos fügt.

Gehorsam bedeutet ein ungleiches Machtverhältnis zwischen zwei Menschen. Es kann sein, dass der Eine große Einsicht besitzt und ein Anderer sich dieser Einsicht anschließt. Allerdings ist der Folgsame derjenige, der im Nachteil ist: Er hat weniger Ahnung und damit weniger Einfluss. Einer befiehlt, der andere kuscht - die Frage "wozu" wird nicht mehr gestellt. Gehorsam ist so eine Technik des Verhaltens, wird zum blinden Hören auf die Stimme des Herrn. Ist Gehorchen eingeübt, können Inhalte und Herren wechseln.

Kadavergehorsam? Im Alten Testament heißt es "es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert" (Micha 6,8) - nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben. Hier geht es nicht um ein mächtiges, befehlen-des Ich und ein willfähriges Du. Es geht um den Inhalt des Geforderten: Gehorsam bezieht sich auf die Welt, die dem Menschen anvertraut ist. So zu gehorchen ist nicht einfach. Gott gehorchen, auf ihn hören, ist ein Prozess, eine Entwicklung. Verantwortungsbewusster Gehorsam bedeutet, in unterschiedlichen Lebenssituationen den Willen Gottes aufzuspüren und sich höchstpersönlich zu entscheiden. Jeder neue Tag, jede neue Situation fordert eine selbstbestimmte Antwort. Nichts kann per christlichen Vorschriften und Gesetzen gesichert werden; niemand darf bloß Erfüller oder Erfüllerin von aufgetragenen Befehlen sein. Christen haben aber nicht einfach nur Verantwortung für die Erhaltung von Ordnung zu übernehmen. Aufgabe ist es, die Welt neu zu ordnen und zu gestalten.

Frauen und Männer, die ihr Leben lang gegen ihre eigenen Wünsche leben, die fremdbestimmt sind, schaffen um sich herum nolens volens eine Realität, die von Unfreiheit durchsetzt ist. Die Atmosphäre, die sie begleitet, ihre Aura ist beklemmend. Wer sich ununterbrochen opfert, drangsaliert sich selbst und die vermeintlichen Nutznießer dieser Opfer. „Ich habe das doch alles nur für dich getan" oder "ich stecke gern zurück, wenn es nur dir gut geht" - wer das zur Lebensmaxime erhebt, wird irgendwann aggressiv. Kein Mensch kann aushalten, immer nur den Wünschen anderer zu gehorchen, sich ihnen zu fügen. Kann sein, dass die Wut nicht direkt, sondern versteckt kommt: "Seit unserem Streit tut mir das Herz weh" oder "ich habe aus Kummer über dich nicht schlafen können" sind Hammerschläge für den, der sie zu hören bekommt.

Sich für eine Sache oder einen Menschen auch opfern zu können geht erst, wenn ein Mann, eine Frau zu sich selbst gekommen sind. Wenn sie wirklich fähig sind, zu lieben. Wenn sie soviel Glück erfahren haben, dass es von ihnen ausstrahlen kann. Wer sich seiner selbst bewusst und über die eigene Person im Klaren ist, der kann Opfer bringen. Sie sind begrenzt und bedeuten keinen Verzicht auf eigenes Leben. Diese Opfer sind ein Teilverzicht, der einem eine Erfüllung bringt, wie man sie sich vorher kaum ausgemalt hat.

Je mehr Leben ein Mensch in sich hat, je reicher er an Gedanken und Gefühlen, an Erfahrungen ist, desto mehr kann er verschenken, hergeben. Wer anderen seine Dienste nicht im eigenen Interesse an Macht und Unterwerfung aufzwingen, sondern ihnen wirklich dienen will, der braucht ein waches Bewusstsein. Der muss sehen können, welche Ängste andere plagen, welche Hoffnungen ihn oder sie bewegen. Der braucht Phantasie.

„Imagine the opposite“ stand einmal in Neon-Leuchtschrift über einer Münchner Kunstgalerie – stell´ dir das Gegenteil vor. Phantasievoll ist jemand, der nicht bloß auf das schaut, was vorhanden ist. Phantasie hat, wer sich auch das Unmögliche vorstellt, wer von einer neuen, anderen Welt träumt, wer sie im Geiste durchspielt und dadurch vielleicht irgendwann auch verwirklicht.

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