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Gnade ist aus der Mode gekommen wie Levkojen- und Lupinensträuße. Man bindet heute Blumen avantgardistisch mit exotischen Gräsern und gebogenen Strohbändern zusammen, steckt sie in kunstvoll gekniffene, farbige Papierwagenräder. Sehr elegant, sehr modern, sehr teuer. Angesichts der exklusiven, gestylten Pracht überfällt meinesgleichen gelegentlich Nostalgie – Sehnsucht nach einem üppigen, aber unprätentiösen, schnörkellosen Bukett von, ja eben, Levkojen oder Lupinen. Aber sie sind eben „out“, so wie echte Gnade. Erfolg ist angesagt, Karriere, eine glänzende Selbstpräsentation und cool drauf sein. Es sieht so aus, als ob niemand Gnade braucht und will. Es klingt in zeitgenössischen Ohren jovial und eher peinlich, wenn jemand so gnädig ist, einem zu helfen - womöglich noch innerhalb einer Gnadenfrist.

Von Gnade unabhängig zu sein, gilt als Zeichen von Freiheit –Rudolf Leonhard, deutscher Schriftsteller und Anhänger Karl Liebknechts, meinte: „Gnade, und käme sie von Gott, ist die feinere Art der Beschimpfung.“ Furchtlose Autonomie scheint nur ohne Gnade zu denken zu sein. Verlässt man die Pfade eines solchen theoretisch-blinden Heroismus und wandelt wachsam auf den eigenen Lebenswegen, merkt man schnell, dass es tatsächlich genau anders herum ist.

Kind, Mann und Frau sind auf Gnade angewiesen, weil es kein Mensch auf dieser Welt schafft, vollkommen zu sein. Vieles gelingt einem – nicht nur, weil man sich anstrengt, sondern auch, weil man mit erfreulichen Gaben und Fähigkeiten beschenkt wurde. Anderes geht voll daneben – man ist eindeutig selber schuld daran oder wollte es wirklich nicht. So ist das Leben – ausgespannt zwischen den Polen von Gelingen und Scheitern.

Es ist Zeichen von klarem, an der Wirklichkeit orientiertem Verstand und von „glaublicher“ Freiheit, sich auf Gnade zu verlassen. Martin Luther hat das unvergleichlich in seine Rede von der Rechtfertigung gefasst. Er wusste - wie es jeder wissen kann, der sich in seinem Innersten gut kennt: Sorgsam kultivierte Selbstherrlichkeit hat einen hohen Preis. Man dreht und windet sich ängstlich bis zur Selbstverleugnung oder gar Selbstaufgabe, um recht zu sein und im richtigen Licht zu erscheinen. Es macht abhängig und ist gnadenlos, bei allem mithalten zu wollen, was „in“ ist, was „man“ sein und tun soll.

Manchmal wird ganz begeistert von einem begnadeten Sänger, einer begnadeten Schauspielerin gesprochen. Man meint Menschen, die überreich mit Können beschenkt sind, mit einer Begabung, die sie aus der Masse heraushebt. Gnade ist die Entfaltung der positiven Möglichkeiten, die in einem Leben stecken – für sich selbst und andere. In diesem Sinn ist jeder und jede begnadet, auch wenn es nicht immer publikumswirksam zur Geltung kommt. Bei Genies lassen sich nicht selten überraschende Schwächen entdecken; gelegentlich erleben sie Bruchlandungen. Auch das unterscheidet sie nicht von den Talenten in der Stille.

Gnade ist großherzig. Sie lässt Kind, Mann oder Frau sein, wie sie sind. Sie macht es möglich, neu anzufangen und sich zu verändern – in Richtung auf das, was in einem an Gutem angelegt ist. In einer Gesellschaft, die Menschen dazu verdammt, ständig aus eigener Kraft großartig zu sein, gibt es nichts Wertvolleres als das Vertrauen auf Gnade. „Er nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen“ heißt es in Anlehnung an alte Traditionen beim Evangelisten Lukas über den 12-jährigen Jesus. Wir können Gehirnjogging und Facelifting machen – wie steht es mit einem täglichen Gnadentraining? Evangelischer, protestantischer Glaube hat das zu seinem Zentrum: Auf das Ja Gottes zu vertrauen und getrost in aller Unvollkommenheit zu leben.

Wer das versucht, macht überraschende Erfahrungen. Der eigene Lebensstil und der Umgang mit anderen ändert sich deutlich, wenn man sich selber akzeptiert weiß und seine Mitmenschen entsprechend respektiert. Das Bewusstsein, nicht von oben herab erst gedemütigt und dann begnadigt, sondern von einem Mensch gewordenen Gott begnadet zu sein, beflügelt zu neuen Taten. Liebe ohne verlangte Vorleistung macht Lust – zeitlose Lust, für sich und andere zu leben.

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