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"Wenn jetzt noch einer klingelt, schrei ich!“ sagt meine Kollegin. Heute ist die Notaufnahme gerappelt voll. Ein Tag wie viele andere im Jahr. Ich bin Krankenschwester in der Notaufnahmestation eines Krankenhauses in der Stadtmitte.

Im Flur stehen – zusätzlich zu den vollen Behandlungsräumen – eine Liege und ein Rollstuhl mit Patienten, die ungeduldig darauf warten, endlich zum Arzt vorgelassen zu werden. Der Geräuschpegel ist hoch. Im Hintergrund kreischt die Gipssäge, fünf Monitore zu Überwachung des Herzschlags piepen laut vor sich hin – leider alle in unterschiedlichen Rhythmen. Eine andere Kollegin versucht sich mit einem schwerhörigen älteren Mann, der sich den Oberschenkelhals gebrochen hat, zu unterhalten. Das gestaltet sich schwierig, denn ein Betrunkener krakelt herum und möchte nach Hause oder ein weiteres Bier.

Das Diensttelefon schrillt unablässig.

Es sind auch Menschen dabei, die meinen sie seien Notfälle: Einer hat eine Zecke. Einer ist vor drei Wochen mal umgeknickt und es dauert so lange, bis man bei einem Orthopäden einen Termin bekommt. Einer anderer hat schlimmes Halsweh.

Jeder von ihnen möchte ernst genommen werden, jeder kommt mit seiner eigenen Geschichte, seinem eigenen Kummer, seinen Sorgen. Und jeder erwartet, dass er gehört und ernst genommen wird und selbstverständlich bestens medizinisch und menschlich versorgt wird. Das, was wir Krankenschwestern tagtäglich sehen, ist das Leben in seiner ganzen Bandbreite. Das ungeschminkte Leben sozusagen.
Immer sollen wir barmherzige Samariter sein. Dabei möchte ich manchmal gerne ein Levit sein. Einfach vorbeigehen, wegschauen und unschuldig schauen.

Ich arbeite seit über 20 Jahren in der Notaufnahme. Sie ist der Ort für alle, die im übertragenen Sinn „unter die Räuber gekommen“ sind: Vom Rettungsdienst aufgelesen von der Straße wie im Gleichnis. Gebracht von aufgeregten Angehörigen.
Manchmal kommen sie auch, weil sie gesehen haben, dass das Licht noch brennt. Betrunken oder nüchtern. Nett oder auch nicht. Alle werden behandelt von uns. Keiner bleibt vor der Tür der Herberge. Egal um welche Uhrzeit.

Manchmal frage ich mich, ob der Samariter beim 101. Opfer auch noch so gehandelt hätte? Anders als im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter haben wir meistens nicht die Zeit, in dem Maße die Kranken und Verletzten, die Mühseligen und Beladenen, die Ängstlichen und Sterbenden zu begleiten und zu versorgen, wie wir es gerne wollten. Es ist manchmal eine große Kluft, zwischen meiner Arbeit und meinem Anspruch.

Manchmal wäre ich gerne wie der Herbergsvater. Ich hätte gerne einen, der, wie im Gleichnis sagt: Wenn du mehr brauchst: Personal, Geräte, Bezahlung – ich will´s dir geben.

Der Grund, warum wir noch nicht alle resigniert oder gekündigt haben, ist der, dass es dennoch immer wieder Momente gibt, in denen wir wieder zum Barmherzigen Samariter finden und werden. Momente, in denen wir so arbeiten können, wie es den Menschen und auch uns als Personal würdig ist.

So lange es diese Momente gibt, werden ich und auch meine Kollegen bleiben.

 

Bildinfo: Dieses Bild können wir dank der Bilderdatenbank pixabay verwenden.

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