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Das zweite Mal komme ich heute mit meiner Kamera hierher in einen Hinterhof, dessen Zufahrt schräg nach unten führt. Steht man im Hof und wendet den Blick zurück, von wo man gerade aufbrach, sieht man die stummen Silhouetten der Passanten oben am Guckloch vorbeiziehen oder kurz die Hälse recken. Steht man hier unten und blickt nach oben, hat man die silberne Fassade eines gegenüberliegenden Stripteaselokals vor Augen. Jetzt, um die Mittagszeit sind alle Lichter erloschen, genau wie die einladenden Lettern, die nur nachts zu gierigem Leben erwachen und »Showtime« verkünden.

Jeden Mittwoch spielt sich hier im Hof, wenige Schritte von den nächtlichen Vergnügungen entfernt, eine andere Show ab, die vielen Blicken verborgen bleibt. Die Münchner Tafel nutzt dann Hinterhof mit Garagenraum in der Landwehrstraße, um Lebensmittel an über 160 Bedürftige der Stadt auszuteilen. Die Lebensmittel erhält nur, wer einen goldenen Berechtigungsausweis vorzeigen kann. Er bestätigt die Bedürftigkeit, eine Nummer ist aufgedruckt. Sobald diese Nummer aufgerufen wird, ist man an der Reihe.

Zwei Kleintransporter liefern die Waren an. Sobald sich die Türen des Lieferwagens öffnen, beginnt ein gutes Dutzend Helfer, die Kisten mit Waren zu entladen. Sie tragen dunkelblaue Schürzen, auf der »Münchner Tafel« in klaren weißen Lettern steht. Ihren Dienst tun sie freiwillig, unbezahlt, die meisten von ihnen sind selbst angewiesen auf die Lebensmittelspenden.

Sie sind auch die ersten, denen mich Alexander Thal von der Caritas vorstellt. In kurzen Sätzen bringt er mein Vorhaben zur Sprache, von dem auch wir noch keine genaue Vorstellung haben. Sie kann nur entstehen, wenn ich den Menschen begegne und sie mich ein wenig in ihr Herz blicken lassen. Befangen und unsicher berühren wir uns in den ersten Augenblicken, lernen uns langsam kennen. Also taumeln, nähern sich mir und ich ihnen die ersten Protagonisten dieses Hinterhoftheaters, dessen Drehbuch nicht frei erfunden oder nachempfunden ist, sondern immer von Neuem das wahre Leben abbildet. Sie spielen sich selbst, sie haben keine andere Wahl.

Ein kleiner Mann um die Fünfzig ist einer von denen, die nicht auf den Fotografien erscheinen wollen. Doch mit einem Mal beginnt er von seiner eigenen Fotoleidenschaft zu erzählen. Er geht sehr nah heran an seine Motive: Blumen. »Menschen zu fotografieren ist nicht einfach, das muss man von Herzen tun.«, gibt er mir zu bedenken. Spannung entsteht, wenn sich sehr viele Menschen auf so engem Raum versammeln. Menschen, die sich fremd sind, die aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen kommen. Nur Mittwochs führt sie das Schicksal hier zusammen.

Mit der Kamera vor meinem Auge versuche ich ihre unwägbaren Gesten und Gefühle sichtbar zu machen, was an sich nicht möglich ist. Die Aufnahme hinkt immer dem Moment hinterher, in dem sich Auge und Herz einig waren, was sie sehen und glauben. Es bleibt ein Versuch, ein verschobener Ausschnitt, der im glücklichsten Falle aufmerksam macht und Teile einer vollständigen Wahrheit enthält. Abbild zwischen zwei authentischen Zuständen, die nie zu fassen sind.

Ein Vertrauen zwischen allen Beteiligten und dem Individuum des Fotografen baut sich im Laufe der Wochen langsam auf, die gegenseitige Furcht, der Respekt, das Fremdsein wird manchmal kleiner. Verschwinden und auflösen kann es sich nicht. Es bleibt wenig Gelegenheit für den Beobachter, aussagekräftige und spontane Eindrücke zu gewinnen, ohne mit seinem Apparat die Figuren zu manipulieren. Die Intuition zerreißt Worte und Gespräche, Ungeduld weicht einem Moment der Gewissheit.

Intuition lässt sich nicht heraufbeschwören. Sie geistert umher im Verborgenen. Der Glaube an sie mag ihr Antrieb und Auslöser genug sein für einen nächsten Auftritt. Dann hilft sie den Menschen, über den Tellerrand ihrer eigenen Welt aus Vorstellungen, Ängsten, Zweifeln und Unsicherheiten hervor zu spähen.

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